Digitale Angebote machen in vielen Branchen dem klassischen Handel Konkurrenz und verändern zunehmend unsere Lebensgewohnheiten. Videotheken werden durch Streaming-Dienste wie Netflix ersetzt, der Buchhandel muss sich aufgrund der Marktmacht von Amazon neu erfinden, der Handel mit Elektronik und Kleidung findet zunehmend im Internet statt. Nun wird die nächste Welle des e-Commerce eingeleitet: in der Lebensmittelbranche.
Lebensmittel sind eine der wenigen Bastionen des Handels, die sich dem Trend bisher weitestgehend entzogen haben. Und das trotz eines enormen Disruptionspotenzials, beträgt doch das Marktvolumen allein in Deutschland über 150 Mrd. Euro. Online wird davon gerade einmal 1% abgewickelt. Im internationalen Vergleich steht Deutschland damit noch am Anfang. Die Franzosen tätigen 5% ihrer Lebensmitteleinkäufe im Internet, die Briten 7%.
Warum wagen sich die Deutschen nur zögerlich an den digitalen Lebensmitteleinkauf? Das liegt einerseits an der Marktstruktur: Deutschland hat einen hohen Anteil an Lebensmittel-Discountern, welche etwa 40% der Umsätze im Markt erwirtschaften. Zusammen mit einer hohen Ladendichte führt das zu intensivem Wettbewerb und niedrigen Margen. Andererseits wünschen sich die online bestellenden Kunden günstige Preise bei gleichzeitig hoher Sortimentsbreite, guter Produktqualität und schneller Lieferung – Anforderungen, die hohe Investitions- und Logistikkosten für Online-Angebote bedingen – was bei der Konkurrenz der Discounter insgesamt wenig Appetit auf den Aufbau von Online-Angeboten gemacht hat. Adäquate Lösungen für die potenziellen Kunden gab es bis vor Kurzem wenige.
Wir beobachten vier Arten von Spielern, die neue Ansätze entwickeln. Neben traditionellen Lebensmittelhändlern drängen reine Online-Händler und branchenfremde Anbieter mit Logistikkompetenz in den Markt. Dazu gibt es eine Vielzahl an “Ready to (h)eat” Anbietern wie Foodora oder Deliveroo. Gerade das starke Wachstum dieser letztgenannten Spieler zeigt, dass der Online-Handel mit Lebensmitteln zumindest nicht grundsätzlich an geringer Nachfrage scheitert.
Lieferdienste für fertige Mahlzeiten sind bereits fest im Markt etabliert
Die Fahrradkuriere von Dienstleistern, die für Restaurants gegen Provision ausliefern sind aus dem Straßenbild deutscher Großstädte nicht mehr wegzudenken. Die Lieferdienste zeigen sich dabei als Vorreiter bei Innovationen in innerstädtischer Logistik. Sie entwickeln Lösungen zur Echtzeit-Bestimmung der Aufenthaltsorte der Fahrer für die effiziente Zuweisung von Lieferaufträgen und Routenoptimierung, informieren ihre Kunden mit automatischen Textnachrichten über jeden Schritt bis zur Auslieferung der Waren und nutzen intelligente Analysewerkzeuge, um in Echtzeit ihre Abläufe zu verbessern und quantitativ fundierte Entscheidungen zu treffen.
Ob sich diese Anbieter allerdings langfristig am Markt werden behaupten können, muss durchaus kritisch hinterfragt werden. Wir schätzen, dass die meisten der Angebote bisher aufgrund hoher Personalkosten nicht profitabel betrieben werden können. Ein entscheidendes Kriterium dabei ist die Auslastung der Fahrer. Um diese auf ein profitables Niveau zu heben, benötigen die Unternehmen eine kritische Masse an Kunden, die aufgrund des intensiven Wettbewerbs nur schwer zu erreichen ist. Das Geschäftsmodell ist ohnehin nur für Ballungszentren ausgelegt, wo kurze Wege zwischen Restaurant und Kunde eine hohe Anzahl an Lieferungen pro Fahrer und eine schnelle Auslieferung in der erwarteten Qualität ermöglichen. In den entsprechenden Gebieten jedenfalls kommen die Angebote gut an. Bereits ca. 10 Millionen Deutsche lassen sich fertige Mahlzeiten nach Hause liefern und Prognosen gehen von über 20 Millionen Kunden im Jahr 2020 aus.
Der Handel zieht getrieben von neuen Wettbewerbern nach
Nachdem sich die Lieferdienste für fertige Mahlzeiten bereits bei den Kunden etablieren konnten, stehen auch die Zeichen für den restlichen Online-Lebensmittelhandel auf Wachstum. Die Kategorie Lebensmittel verzeichnete in Deutschland 2016 mit über 26% das stärkste Umsatzwachstum unter allen Bereichen des e-Commerce. Von ihren Pendants im Ausland sind deutsche Anbieter allerdings noch weit entfernt. Der Internetauftritt von Rewe hatte Anfang 2017 zwar ca. 1,5 Mio. Besucher pro Monat, was für Deutschland bereits ein Spitzenwert ist. Internationale Marktführer jedoch verzeichnen deutlich mehr Traffic, darunter Ocado aus Großbritannien, dessen Online-Auftritt über 4 Mio. Menschen pro Monat besuchen.
Inzwischen arbeiten nahezu alle großen Händler mit unterschiedlich hoher Intensität an eigenen Online-Konzepten, darunter neben Rewe auch Edeka, Real und Lidl. Die (teilweise) Verdrängung von traditionsreichen Spielern aus ihren Kernmärkten Video, Bücher, Elektronik durch intensiven eCommerce-Wettbewerb steht wohl allen Vorständen vor Augen. Da wirken Markteintritte neuer Konkurrenten wie der Deutschen Post DHL und ihrem Lieferdienst AllyouneedFresh zusammen, der zusätzlich die Logistik für den Marktstart von Amazon Fresh in Berlin übernimmt, wie ein Alarmsignal.
Dabei stehen alle vor der großen Herausforderung, ein effizientes und leistungsfähiges Fulfillment-Konzept für Lebensmittel zu entwickeln. Die Bandbreite der Lösungen reicht von der Kommissionierung der Kundenaufträge im Store, über sogenannte Dark-Stores, also Filialen ohne Kundenverkehr und ausschließlich auf das Kommissionieren von Online-Aufträgen spezialisiert, bis hin zu klassischen Fulfillment-Centern. Die meisten Mehrkanal-Händler testen derzeit die unterschiedlichen Ansätze. Ein Königsweg hat sich hier bislang noch nicht herauskristallisiert.
Zusätzlich kämpfen viele Händler mit der Warenkorb-Struktur, also den Artikeln, die eine Kundenbestellung umfassen. Wer schon einmal vor Ort in einem Online-Logistikbetrieb eine typischen Online-Kundenauftrag analysiert hat, findet hier häufig Produkte, die jeden Logistik-Operations-Manager herausfordern: großvolumige und gleichzeitig eher geringwertige Artikel wie z.B. Toiletten- oder Haushaltspapier und großvolumige, schwere und tendenziell niedrigpreisige Artikel wie z.B. Softdrinks. D.h. hier wird eine aufwändige und kleinteilige Logistik für einen tendenziell geringen Warenwert erbracht – darunter leidet die Profitabilität. Ausgeglichen werden kann dies durch die Ergänzung von hochwertigen Frische- und Convenience-Produkten mit einem entsprechenden Wertbeitrag.
Traditionelle Anbieter haben durchaus Stärken, die sie ausspielen können. Sie können Synergieeffekte in der Logistik zwischen stationärem und Online-Handel heben und so die Investitionskosten in ihre Online-Angebote im Vergleich zu den neuen Spielern gering halten. Sobald eine signifikante Anzahl an Käufen im Internet getätigt wird, können sie dann auch beginnen, Einsparungen bei ihren stationären Supermärkten vorzunehmen. Außerdem sehen wir ein hohes Potenzial im Bereich des Customer Relationship Managements (CRM). Dabei können Handelsunternehmen bestehende mit neuen Kanälen verknüpfen, um Kunden ein nahtloses Einkaufserlebnis zu bieten und so die Kundenbindung zu erhöhen. Die Kunden müssen dann etwa nicht wie bei den reinen Online-Händlern auf Bonuspunkte und andere Vorteile verzichten, wenn sie einmal nicht im Internet bestellen, sondern spontan ein Geschäft aufsuchen wollen.
Ist also bald die Zeit gekommen für den Abschied vom Supermarkt? Es deutet sich zumindest an, dass der Lebensmittelhandel im Zuge der weiteren Verbreitung des e-Commerce vor tiefgreifenden Veränderungen steht. Schon bald könnte der Online-Handel mit Lebensmitteln dann ebenso alltäglich für die Verbraucher sein wie es bereits heute bei Büchern, Kleidung oder DVDs der Fall ist.
Das Thema Digitalisierung im Einzelhandel steht auch auf der Tagesordnung der Urban Logistics Convention, die am 21. und 22. November in Amsterdam stattfindet. Die UrbanLogCon ist eine Gemeinschaftsveranstaltung der BVL mit Roland Berger, der französischen ASLOG und dem niederländischen VLM. Hier geht es zu weiteren Informationen und zur Anmeldung: https://urbanlogistics-convention.com/
Für weitere Informationen kontaktieren Sie gern den Autor Tobias Schönberg, Senior Partner Transportation, Roland Berger Berlin unter tobias.schoenberg@rolandberger.com oder Jens Kilimann, Principal Consumer Goods & Retail, Roland Berger GmbH unter jens.kilimann@rolandberger.com
Leave a Reply