Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, dass der Expertenkreis der Logistikweisen Nachhaltigkeit, Personal und Digitalisierung als die drängenden Themen für das Logistikjahr 2020 definiert hat (siehe Bericht und Zusammenfassung 2020) – es sind nur zweieinhalb Monate, in denen sich die Welt komplett verändert hat! Gehören diese Themen damit der Vergangenheit an?
Der nach dem virtuellen Gipfeltreffen am 27.3.2020 bereits am 2.4.2020 veröffentliche offene Brief der Logistikweisen könnte dies suggerieren. Die Inhalte sind außerdem in den Statements vieler weiterer Vereinigungen enthalten, manche wurden von der Politik auch umgesetzt. In dieser kurzen Zeit hat sich die Situation für viele weiterhin verändert. Und die Unsicherheit darüber bleibt bestehen, wie die nächsten Wochen und Monate aussehen werden. Entsprechend: Sind die Themen Nachhaltigkeit, Personal und Digitalisierung damit irrelevant? Das lässt sich leicht beantworten: Selbstverständlich nicht! Einzig der Zeithorizont ist jeweils ein anderer.
Der kurzfristige Zeithorizont: Personal
Nichts ist zurzeit relevanter als das Personal. Der Applaus für die Pflegekräfte, die Wertschätzung für die Kassiererinnen und Kassierer sowie die Wichtigkeit des Logistikpersonals für die Nachversorgung mit Nudeln und Toilettenpapier rückt deren Systemrelevanz in den Mittelpunkt der politischen Diskussionen. Berufe, die noch bis vor Kurzem mit Abschätzigkeit betrachtet wurden und deshalb über Fachkräftemangel zu klagen hatten, können nun damit rechnen, dass sie fordern können – von der Politik und von den Auftraggebern. Die damit einhergehende potenzielle Steigerung der Attraktivität gepaart mit den Restrukturierungen in anderen Branchen führt zu einem potenziellen Personalzufluss, der bei adäquaten Rahmenbedingungen auch nachhaltig sein kann (neben der Bezahlung auch die Unternehmenskultur, siehe dazu den Beitrag von Dr. Christian Grotemeier im Jahresbericht der Logistikweisen 2020 ab S. 43).
Der mittelfristige Zeithorizont: Digitalisierung und Innovationen
Hier ist eine etwas längere Ausführung notwendig: Versetzen wir uns in die Zeit Zeit nach der Coronakrise. Es wurde ein Impfstoff entwickelt (derzeit prognostiziert für frühestens Anfang 2021) und das Wirtschaftswachstum hat die Aufholjagd abgeschlossen und das Niveau von 2019 wieder erreicht. Der Sachverständigenrat (Wirtschaftsweisen) geht hier von drei Szenarien aus. So wird das deutsche BIP des Jahres 2019 nach dem
- Basisszenario ca. in Q2/2021,
- Szenario mit einem ausgeprägten V ca. in Q4/2021 und
- Szenario mit einem langen U ca. in Q3/2022 erreicht sein.
Jedes dieser Szenarien geht nach der Talsohle von einem starken Wachstum aus – die Frage ist nur die Breite und Tiefe der Talsohle. Und hier zeigt sich die Relevanz der Logistik: Sie ist nicht nur von dieser dynamischen Entwicklung abhängig, sondern sie ist auch eine wichtige Stütze für diesen Aufschwung. Warum das so ist, beantwortet jeder Supply Chain-Manager ähnlich: solange die weltweiten Logistikketten und Supply Chains nicht reibungslos funktionieren, können in Deutschland die Wirtschaft und insbesondere die zahlreichen Produktionsstätten von Großunternehmen und Mittelständlern nicht durchstarten. Denn wenn ein Zulieferteil aufgrund von Störungen in der Supply Chain fehlt, kann das Produkt nicht hergestellt werden. Dazu hat Claudius Semmann von der DVZ Thesen aufgestellt, wie die Logistikketten und Supply Chains nach der Coronakrise aussehen könnten, die verschiedene Logistikexperten, wie auch ich, diskutieren durften. Dabei behandelten zwei Thesen die Just-in-Time-Produktion und die globale Vernetzung. In Zukunft wird es nur dann weiterhin möglich sein, die globalisierten Supply Chains mit Just-in-Time Beschaffung aufrechtzuerhalten, wenn die Erfolgsfaktoren der Digitalisierung mehr genutzt werden.
Denn wie störanfällig die Just-in-Time-Produktion ist, ist bekannt. Vielleicht ist die Zeit von Just-in-Time gezählt, und eine neue Methode ist die Alternative der Stunde. Egal, wie die Entscheidung aussieht, ob ein „Point of no return“ für die Just-in-Time-Produktion erreicht ist oder ob eine Neujustierung vorgenommen wird: Der größte Erfolgsfaktor wird Transparenz in der Kette sein, die nur durch Digitalisierung möglich ist.
Aus diesem Grund werden die Investitionen in die Transparenz und auch die Widerstandsfähigkeit von Lieferketten deutlich zunehmen. Denn die aktuelle Pandemie wird nicht die letzte negativ wirkende Kraft sein, die wir in Zukunft erfahren. Wahrscheinlich wird ein solches Ereignis, wenn auch eher in Dekaden, wieder auftreten. Aber Brexit, Handelskriege und Protektionismus auf der politischen Seite oder Naturkatastrophen haben in den letzten Jahren gezeigt, dass die internationalen Herausforderungen für Unternehmen nicht weniger werden und auch in höherer Frequenz auftreten. Da die Lieferketten und Supply Chains eng getaktet und weltweit vernetzt sind (und auf absehbare Zeit mehrheitlich bleiben werden), genügt eine kleine Störung, um ein Unternehmen in Bedrängnis zu bringen. Mit dem Blick auf den gesamten Wirtschaftsbereich Logistik sind diese Ereignisse in vielen Fällen vernachlässigbar, weil sie ausgeglichen werden oder einen nur kleinen Anteil am Gesamten haben. Für einzelne Unternehmen können sie jedoch existenzbedrohend werden. Aus diesem Grund wird sich hier etwas verändern müssen.
Ein Mittel ist die Digitalisierung: Durch deren Potenziale, die sich aus dem Einsatz von Werkzeugen der Digitalisierung ergeben, existieren mehr Handlungsalternativen (siehe dazu den Beitrag von Dr. Steffen Wagner, Dr. Andreas Backhaus und Prof. Dr.-Ing. Thorsten Schmidt im Jahresbericht der Logistikweisen 2020 ab S. 59). Aus diesem Grund werden mittelfristig die Digitalisierung und die Nutzung von Innovationen zu maßgebliche Erfolgsfaktoren dafür, ob ein Logistikdienstleistungsunternehmen an dem Aufschwung nach der Krise partizipieren kann. So sollte trotz der herausfordernden Zeit der Fokus auf die drängende Digitalisierung und die Umsetzung von Innovationen nicht verloren werden.
Gerade in solchen Zeiten kann es sinnvoll sein, sich mit Startups und deren Angebot auseinanderzusetzen (siehe dazu den Beitrag von Martin Schwemmer, Marc Schmitt und Michael Müller im Jahresbericht der Logistikweisen 2020 ab S. 64). Dies gilt insbesondere, wenn Use Cases und Business Cases vorliegen, wie sie bspw. auf der Plattform des Digital Hub Logistics Hamburg gefunden und kennengelernt werden können. Eine Zusammenarbeit mit diesen jungen Unternehmen kann nicht nur die Innovationskraft Deutschlands unterstützen, da aussichtsreiche Innovationen und Erfindungen gesichert werden, sondern auch den Logistikdienstleistungsunternehmen einen Startvorteil für den Aufschwung und die Reaktivierung der Supply Chains nach der Krise bieten.
Dies verdeutlicht, wie elementar die Logistik und deren Konzeption für einen Hochlauf der Wirtschaft in Deutschland ist: Erst wenn die Logistikketten und die Supply Chains funktionieren, können auch Produktion und Handel ihre Potenziale heben. Und dies kann nur durch mehr Digitalisierung und Innovation gewährleistet werden. Wie die Innovationskraft von Corporates in der Logistik gesteigert werden kann, untersuchen wir, das sind Prof. Dr.-Ing. Thorsten Schmidt von der TU Dresden, Prof. Dr. Wolfgang Stölzle von der Uni St. Gallen und ich, in Zusammenarbeit mit dem Digital Hub Logistics Hamburg. Ergebnisse können pünktlich vor dem Einsetzen des Aufschwungs erwartet werden.
Der langfristige Blick: Klimawandel und nachhaltiges Handeln
Langfristig werden der Klimawandel bzw. die weltweiten Klimaschutzziele einen deutlich größeren Einfluss auf die Gestaltung von Lieferketten haben als die Corona-Pandemie. Das wird und sollte so sein, um für die nächsten Generationen den Wohlstand zu erhalten. Sobald das Thema Corona in Vergessenheit geraten ist, wird deshalb die Gestaltung der Lieferketten unter Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien wieder dominieren.
Jedoch ist hier eine Grundvoraussetzung notwendig: So lange kein umfängliches nachhaltiges Handeln in die Unternehmens-DNA übergeht, werden Kostensenkungen in den Beschaffungsabteilungen und im Controlling dominieren. Ähnlich wie Konsumenten nach dem Preis und weniger nach ethischen oder nachhaltigen Kriterien entscheiden, werden dies auch Unternehmen tun. Beide stehen unter gewissen Zwängen, die es nicht einfach machen, im Sinne der (Welt-) Gemeinschaft und der Umwelt zu entscheiden. Dafür ist ein Paradigmenwechsel in Politik und Konsum notwendig. Es ist leider nicht vermeidbar, direkte oder indirekte Abgaben zu erheben , die die Belastung der Umwelt abbilden. Aus meiner Sicht kann es weltweit nur dann zu einem nachhaltigeren Agieren kommen, wenn das umweltbelastende Handeln teurer und das nachhaltige relevanter wird.
Um hier Klarheit zu schaffen: Effizienzsteigerungen fallen nicht unter die hier gemeinten Kostenreduzierungen, sondern sollten immer bedacht werden. Kontinuierlich sind Prozesse, Aktivitäten, Handlungsweisen und Entscheidungen dahingehend zu überprüfen, ob sie mit den zur Verfügung gestellten Ressourcen effizient umgehen. Verschwendung ist in den aktuellen Zeiten der Ressourcenverknappung inakzeptabel.
In Folge der oben diskutierten offensichtlichen Verwundbarkeit der weltweiten Logistiknetze führt diese Entwicklung dazu, dass die weitverzweigten Lieferketten und Supply Chains langfristig an Relevanz verlieren werden. Bereits in unserem Bericht der Logistikweisen zum Logistikjahr 2017 haben wir darauf hingewiesen, dass weltweit ein Trend zur Regionalisierung zu erkennen ist. Dies hat nicht nur mit der seit einiger Zeit aufgekommenen Neigung zum Protektionismus zu tun. Auch die Komplexität, die sich aus den Anforderungen der eng getakteten Produktionslinien und der immer herausfordernder werdenden Nachfrageprognose des Endkunden ergibt, steigt kontinuierlich. Schwankungen, Störungen und Risiken entlang der Kette haben eine größere Auswirkung als noch vor zehn Jahren. Dies hat zur Folge, dass einzelne Wertschöpfungsstufen in die Nähe des Absatzmarktes verlagert werden. Zwar können davon Europa und die nahegelegenen Regionen durch (Rück-)Ansiedlungen von Industrien profitieren, die nach Fernost gewandert sind. Jedoch bedeutet dies auch, dass klassische Exportprodukte Deutschlands wie Automobile und Maschinen ebenso ihren traditionellen Produktionsstandort verschieben könnten. In der Vergangenheit waren diese Entwicklungen bisher nur vereinzelt zu erkennen. Insbesondere die Verschiebungen von Produktionen aus Deutschland heraus wurden von den Wachstumsraten verdeckt.
Jedoch kann eine digitalisierte und nachhaltige Wirtschaft insgesamt für Deutschland das nächste Wirtschaftswunder bedeuten. Dies ist zwar eine langfristige Strategie, für die nicht nur ein Umbau einzelner Unternehmen, sondern auch der Wirtschaftspolitik vonnöten sein wird. Weder ein Großteil der „Cash Cows“ der letzten Dekaden noch die Strategien der Mehrzahl der Unternehmen bilden die Anforderungen und Bedürfnisse der kommenden Dekaden ab. Und die Logistik ist ein wichtiger Bestandteil dabei, die einzelnen Akteure in einer nachhaltigen Gesellschaft und Wirtschaft zu verbinden. Es kann viel Wertschöpfung verlagert, umgestaltet oder neu gedacht werden – am Ende muss das Ergebnis der Wertschöpfung zum nachfragenden Kunden.
In Summe bleibt festzuhalten: die Zeit arbeitet für die Logistik und deren Relevanz.