Der Expertenkreis der Logistikweisen sieht seine Aufgabe darin, die Auswirkungen von prägenden Ereignissen und relevanten Entwicklungen auf den Wirtschaftsbereich Logistik für die interessierte Öffentlichkeit einzuschätzen, um eine Orientierung in einer unsicheren Zeit zu geben. Wir haben dies bereits zu Beginn der Corona-Krise in Form eines Offenen Briefes und kontinuierlicher Bewertungen der Lage vollzogen. Auch in der aktuellen Situation werden wir unsere Einschätzungen veröffentlichen.
Wir verfolgen die Entwicklungen in der Ukraine mit großer Sorge. Unsere Gedanken sind bei den betroffenen Menschen, unsere Hoffnungen liegen in einer baldigen friedlichen Lösung des Konflikts.
Der nominale Effekt
Insgesamt ist mit deutlichen Kostensteigerungen in unterschiedlichsten Ausprägungen zu rechnen. Dass die Energiepreise und damit die Kosten für Treibstoffe und den Betrieb von Logistikimmobilien steigen werden, ist offensichtlich. Dies hat sich bereits vor der Krise abgezeichnet.
Hinzu kommt eine weiter zunehmend angespannte Lage bei den globalen Transport- und Umschlagskapazitäten. In Europa sind insgesamt rund 200.000 Fahrerinnen und Fahrer aus Ländern Osteuropas im Einsatz, die nicht Teil der der EU sind, wie die Ukraine, Belarus und Russland. Diese werden zwar nicht komplett, aber zu einem großen Teil in den Fernverkehren auch für deutsche Unternehmen fehlen. Die Konsequenz wird sein, dass die Lage bei den Kapazitäten im Straßengüterverkehr sich weiter anspannt. Auch wenn der Anteil bei rund drei Millionen LKW-Fahrern insgesamt niedrig erscheint, kann dies zu weiteren Kostensteigerungen führen. Auch die Transporte per Luft und See sowie per Schiene, die insbesondere zwischen Europa und Asien verkehren, werden in Mitleidenschaft gezogen. Selbst wenn das optimistische Szenario einer schnellen Befriedung eintreten wird, werden die Verwerfungen in den Transportketten noch lange nachwirken.
Der bereits im Herbst 2021 deutlich zu erkennende Unterschied zwischen der nominalen und der realen Entwicklung des Wirtschaftsbereichs Logistik wird sich dementsprechend noch weiter ausprägen.
Der reale Effekt
Zum aktuellen Zeitpunkt ist der reale Effekt auf die Logistikaktivitäten schwerer einzuschätzen. Bei einer – hoffentlich – schnellen Befriedung der Situation können psychologische Effekte, wie zurückhaltende Investitionsaktivitäten, länger nachwirken. Ein anhaltender Konflikt wird die Wirtschaftsaktivitäten und damit die Logistiknachfrage nachhaltig beeinflussen. Auch wenn die Regionen nur einen relativ kleinen Teil des deutschen Handels ausmachen, so werden wir die Wachstumsprognosen mit jedem Monat des Konfliktes nach unten korrigieren müssen.
Zusammenfassung
In Summe ist eine Korrektur der Bewertung der realen Entwicklung des Wirtschaftsbereichs Logistik zu erwarten, auch wenn der Konflikt schnell gelöst werden sollte. Dieser wird zusammen mit den weiteren Herausforderungen, bspw. durch Engpässe, zu einer Reduzierung des realen Wachstums führen. Hinsichtlich des nominalen Wachstums wird es durch die steigenden Kosten nur zu geringen Anpassungen kommen.
Jedoch werden neben den zu erwartenden Kostensteigerungen auch die Kapazitätsengpässe zu weiteren Beeinträchtigungen in den Supply-Chains führen. Bei bestimmten Rohstoffen und Nahrungsmitteln ist sogar davon auszugehen, dass es in absehbarer Zeit zu ernstzunehmenden Engpässen kommen wird.
Eine konkrete Aussage ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich. Für die Akteure der Logistik sind dies trotzdem keine guten Nachrichten. Der Expertenkreis wird sich diesem Thema im Rahmen seines nächsten Gipfeltreffens am 1. April 2022 intensiv widmen.
Aussagen aus dem Expertenkreis:
Prof. Dr. Thorsten Schmidt von der TU Dresden sieht im Schlagabtausch der Sanktionen neben dem Bereich Energie die Verschärfung des Fahrermangels, da insbesondere ukrainische Fahrerinnen und Fahrer fehlen werden.
Auch Gerritt Höppner-Tietz von hagebau erwartet deutliche Reduktionen von Frachtkapazitäten aus Belarus, Russland und der Ukraine.
Prof. Dr. Peer Witten von der Otto Groupweist auf die noch knapper werdenden Kapazitäten in See- und Luftfracht hin. So ist zu erwarten, dass durch die potenzielle Einstellung des Schienenverkehrs zwischen China und Europa via Russland zusätzliche Mengen auf See- und Luftverkehr zukommen und die Kapazitätslage weiter verschärfen. In der Luftfracht führen darüber hinaus die erheblichen Umwege durch Sperrung des russischen Luftraums zu längeren Flugzeiten und geringerer Zuladekapazität durch höheren Kerosinbedarf. Das Resultat sind noch weiter steigende Transportkosten und zeitliche Verzögerungen in den Supply Chains.
Jürgen Wels von Porsche Logistik erwartet Kosten-/Preiseffekte bei Energie und Rohstoffen, die verstärkt nominale Wirkung entfalten dürften.
Patrick Wiedemann von RLG weist darauf hin, dass die zunehmend politisch motivierte Einflussnahme auf die Rohstoffverfügbarkeit zu Veränderungen von Regularien hin zu erhöhtem Einsatz von Recyclingmaterial längerfristig zu einem höheren Kostenniveau führen wird, da tendenziell Recycling höhere Kosten mit sich bringt als Primärrohstoffkosten.
Dr. Martin Schwemmer von der BVL hält eine weitere Verteuerung der Logistikleistungen für unvermeidbar.
Kerstin Wendt-Heinrich von TOP Mehrwert-Logistik sieht insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen durch die Verteuerung des Treibstoffs betroffen, da sie die Mehrkosten nicht ausreichend schnell weitergeben können.
Laut Wolfgang Lehmacher ist die Ukrainekrise ein weiterer Schock für die bereits hochstrapazierten Logistik-Systeme. Obwohl es noch zu früh sei, um wesentliche Korrekturen vorzunehmen, sei ein De-Risking der Lieferketten unumgänglich und je nachdem wie sich China zu Russland stellt und sich gegebenenfalls ein neuer Eiserner Vorhang formiert, stehen wir vor dem größten Umbau der Supply-Chains seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Auch für Dr. Christian Jacobi von agiplan sind die Folgen des Konfliktes derzeit in keiner Form absehbar. Die gesamte Wirtschaft in Deutschland wird in jedem Fall negativ betroffen sein werden, da das Leben teurer und der Konsum abnehmen wird. Es liegt in der Natur des „Deutschen“, zu sparen und sich auf schlechte Zeiten vorzubereiten.
Dr. Andreas Froschmayer von DACHSER weist darauf hin, dass sich die Kampfhandlungen und wechselseitigen Sanktionen massiv auf die Lieferketten auswirken. Im Vordergrund steht zunächst die Sicherheit aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In der Luftfracht wurde der Luftraum über der Ukraine in einem weiten Radius gesperrt. Starts und Landungen sind hier nicht möglich, sodass sich die Flugaktivitäten an den Ausweichflughäfen in der Region verstärken. Hier zeigen sich zunehmend Verzögerungen bei der Frachtabwicklung. Der Anteil der Ukraine an den Logistikaktivitäten ist jedoch in der Gesamtbetrachtung der weltweiten und europäischen Warenströme gering, wodurch sich die Auswirkungen auf die Gesamtzahlen in Grenzen halten.
Auch Frauke Heistermann sieht einen geringeren Einfluss auf das Wachstum – aber die Energiepreise beeinflussen das Ergebnis der Unternehmen – auch im Logistiksektor.
Markus Meißner von AEB ist überzeugt, dass die Inflation bzw. eine festgezurrte Stagflation das eigentliche Risiko bleibt, sodass die Schere zwischen realem und nominalem Wachstum sehr weit auseinanderklaffen wird.
Prof. Dr. Alexander Nehm sieht eine mittelfristige Beschleunigung bzgl. der „autarken“ Energiegewinnung vor allem bei Logistikimmobilien, um möglichst unabhängig zu werden, wenngleich die Ursache eine traurige ist.
Harald Seifert vonSeifert Logistics wird bereits jetzt mit Schwierigkeiten und Personalengpässen konfrontiert. Der Zusammenhalt der Logistik im Bereich der humanitären Hilfe ist enorm und (über)zeugt wieder einmal von der Wichtigkeit unserer Branche.
Arnold Schroven sieht je nach Entwicklung des Krieges eine viel dramatischere Entwicklung. Gerade entsteht dabei eine neue Weltordnung zwischen West und Ost. Der freie Handel ist dadurch erst einmal unterbrochen und die Kosten für Warenbeschaffung steigen beträchtlich. Ebenso werden die Waren, die zur Herstellung viel Energie gebrauchen, rasant im Preis steigen. Jeder Konsument wird es spüren.
Michael Müller von Müller – Die Lila Logistik fasst es so zusammen, dass wir kurzfristig eine Kostenexplosion aller Energieträger sowie das erneute Überdenken aller Lieferketten hinsichtlich Widerstandsfähigkeit feststellen werden. Mittel- und langfristig haben wir nun (eine traurige) Klarheit in Bezug auf die Stabilität und eine neue Realität in Europa. In Deutschland werden wir unsere Stärken nutzen, um z.B. maximale logistische und humanitäre Beiträge zu leisten. Abermals ist es die Logistik, die entscheidend dazu beitragen wird, das Leid der Menschen in der Ukraine und auch der flüchtenden Menschen zu lindern. Unser Sektor wird diese Entwicklung als ungewollte Chance begreifen – politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich.
Weitere Informationen zum Expertenkreis sowie dessen Veröffentlichungen finden Sie unter www.logistikweisen.de.
Tolle Denkanstösse – herzlichen Dank für den Beitrag!