Der folgende Text wurde erstmals am 14. Dezember 2021 im DVZ-Themenheft „Logistik weitergedacht“ veröffentlicht und ist hier leicht gekürzt, überarbeitet und mit Online-Verweisen ergänzt.
Supply Chain Management (SCM) ist eher eine Philosophie als ein konkretes Konzept zur Optimierung von Wertschöpfungsketten – das könnte man als zusammenfassende Aussage der sehr visionären, aber auch praxisorientierten Werke des weit geschätzten Logistikexperten Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Bretzke ziehen (diese Kritik findet sich als Buchauszug hier). Dies zu erkennen, einzugestehen und sich zur Fehlbarkeit dieses Konzeptes zu bekennen ermöglicht den nächsten Schritt in der Optimierung der Supply Chains.
Denn seit über zwanzig Jahren wird Supply Chain Management als Instrument beworben, das moderne Wertschöpfungsketten in ihrer Komplexität handhabbar und optimierungsfähig macht. Wer aber die letzten zehn Jahre Revue passieren lässt, in denen sich dieses Instrument aus der Pubertät in das Erwachsenenalter hätte entwickeln sollen, zum Besseren, der wird erkennen, dass die weltweiten Ketten häufiger statt seltener ausgefallen sind. So hat alleine in den letzten zwei Jahren nicht nur die Corona-Pandemie dazu geführt, dass Produktionen aufgrund von Störungen gestoppt oder zumindest gedrosselt werden mussten. Ein einziges Schiff hat die Lebensader zur Versorgung Europas mit asiatischen Gütern für mehrere Tage verstopft, die Auswirkung waren noch Wochen in den Supply Chains zu spüren. Rohstoff- und andere Lieferengpässe verhindern in vielen Industrieländern ein höheres Wachstum.
Nun könnte an dieser Stelle angemerkt werden, dass das alles noch schlimmer wäre, wenn die Logik des Supply Chain Managements nicht verfolgt werden würde. Das ist ebenso richtig, wie es unmöglich ist, die Frage „was wäre, wenn es anders wäre?“ sicher zu beantworten.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich die Philosophie des Supply Chain Managements nicht als falsch erachte. Aber ich erachte sie als ein Ideal, das in der Praxis nicht erreicht werden kann, und das auch aus diversen Gründen nicht erreicht werden sollte (dazu empfehle ich die – wenn auch nicht einfach zu lesenden – Publikationen von Wolf-Rüdiger Bretzke, insbesondere sein Buch „Logistische Netzwerke“ und „Die Logik der Forschung in der Wissenschaft der Logistik“). Dort werden 14 Dimensionen der Komplexität einer Supply Chain beschrieben, die dazu führen, dass das Management der Supply Chain und ihrer Komplexität nur mit Abstrichen möglich ist.
Ich möchte das Bewusstsein dafür schärfen, dass es wichtig ist, sich als Logistik- oder SCM-Verantwortlicher damit auseinanderzusetzen, was die Grundidee hinter dem Supply Chain Management ist:
Die kooperative Gestaltung der gesamten Wertschöpfungskette vom Rohstofflieferanten bis zum Endkunden unter Einbindung aller Stakeholder mit Ausrichtung aller Optimierungen auf den Nutzen für den Endkunden.
Mit der Entwicklung in der Digitalisierung ist es möglich, die Idee des Supply Chain Managements in die nächste Entwicklungsstufe zu führen – nahe an das Erwachsenenalter. Denn es ist nun möglich, nicht nur Informationen und Daten zu sammeln. Diese können nun auch geteilt und verarbeitet werden. Das eröffnet das Potenzial für alle Akteure, gemeinsam und kooperativ an Lösungen zu arbeiten, um auf Störungen optimal reagieren zu können. Eine Diskussion der Potenziale der Digitalisierung im Rahmen des Supply Chain Managements in einer Zusammenfassung findet sich in diesem Buchkapitel.
Dabei darf in keinem Fall das wichtigste Element der Marktwirtschaft – der Wettbewerb – außer Kraft gesetzt werden. Im Gegenteil: Die Digitalisierung sollte dazu dienen, dass das Supply Chain Management der grundsätzlichen, oben grob abgesteckten Philosophie folgen kann, ohne dabei den Wettbewerb auszuhebeln, sondern vielmehr, indem es dem Endkunden nutzt. Es ist auch in der Realität unmöglich, mehr zu erreichen (Stichwort Philosophie), da faktisch keine Supply Chains existieren, sondern Supply Networks, bei denen Akteure nicht linear miteinander verbunden sind, sondern kreuz und quer. Aus diesem Grund ist es umso notwendiger, an dieser Stelle die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen, um das Knäuel an Verbindungen und Verknüpfungen zu beherrschen. Es könnte also mit der Digitalisierung und einem neuen Umgang damit endlich möglich sein, die Philosophie des Supply Chain Managements näher an die Realität zu holen, so dass dieses wichtige Instrument endlich „erwachsen“ wird.
Sehr herzlichen Dank, lieber Christian Kille, für Ihre kluge Analyse. Die Frage bleibt m.E., ob SCM je erwachsen werden kann und soll, wie ich als Altpraktiker aus zwei wesentlichen Gründen fragen möchte:
1. bleibt nicht auch für SCM die alte Regel dauerhaft gültig, das nur “der Wandel beständig ist”, weil
2. Logistik und SCM sich ständig weiter entwickeln entsprechend technischer Neuerungen und Verbraucher-
Anforderungen und weil alles eben doch “Business is people” bleibt mit allen damit verbundenen Schwächen und
den Unwägbarkeiten (die sich speziell auch aus dem von Ihnen richtigerweise beschworenem Wettbewerb
ergeben?) –
ein gewünschter circulus vitiosus?!
Ich hatte das Glück, Professores Bretzke, ten Hompel und Delfmann bei großartigen DLK Vorträgen und in persönlichen Gesprächen zu erleben –
eine Frage blieb bis heute offen, die ich 2013 bei der “Verkündigung” der Chancen der Digitalisierung durch Prof. ten Hompel stellte: wie nehmen wir die Menschen mit, die dies alles nicht können oder wollen? Mit möglichem Einfluss auf SCM?
Frohe Weihnachten und ein gesundes, erfolgreiches Jahr 2022!
Ihr Wolfgang Seuthe
bitte lesen. ein circulus vitiosus oder doch virtuosus?!