von Dr. Michael Mehldau
Die Quantensprünge in der Entwicklung von Datenverfügbarkeit und -verarbeitung verbessern nicht zwingend die Planungsgüte in der Logistik. Exogene Faktoren, wie das Verhalten der Wettbewerber und Kunden, aber auch sich ändernde politische, gesetzliche oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen, machen die Logistikplanung zur Herausforderung.
Dieser Blog widmet sich den Fragen, was man von professionell erarbeiteten Planungsgrundlagen erwarten darf, wo auch dort die Grenzen liegen und wie man mit diesen umgehen kann.
Im ersten Teil (13.01.2017) habe ich gezeigt, warum Planungsgrundlagen in der Logistik auch in Zeiten von Big Data so wichtig sind. Weiterhin wurden die Aspekte „Abgrenzung Output – Input“ und „echte Anforderungen“ beleuchtet. Hier folgen weitere zentrale Fragen bei der Erstellung von Planungsgrundlagen aus meiner beruflichen Praxis.
3. Das richtige Maß an Vergangenheit? Wir müssen die Vergangenheit betrachten, um aus Bewegungs-, Bestands- und Strukturdaten ein Mengengerüst zu erstellen. Welcher historische Zeitraum soll ausgewertet werden, 3 Monate, 1 Jahr, 3 Jahre? Oder alles, was wir bekommen können, frei nach dem Motto „viel hilft viel“? Die meisten Unternehmen haben in ihrer Aktivität eine mehr oder minder ausgeprägte jährliche Saisonkurve, unabhängig von Umsatzentwicklungen und Konjunktur-Zyklen. Daher hat sich die Betrachtung eines Jahres als Grundsatz bewährt.
Der Lebenszyklus, d.h. der Start bzw. Auslauf einzelner Produkte und Programme im gewählten Zeitraum, ist mit den Verantwortlichen zu bewerten: Handelt es sich um „normale“ Aktivitäten, wie sie mehr oder weniger jedes Jahr auftreten, oder müssen wir durch Zu- und Abschläge eine Normierung vornehmen? Gleiches gilt für andere diskrete Ereignisse im ausgewerteten Zeitraum – beispielsweise Zu- und Verkäufe von anderen Unternehmen oder grundlegende Veränderungen in der Supply Chain mit einer anderen Zuordnung von Produkten, Aufträgen, Versendern und Empfängern. Langfristige Trends und Zyklen sind demgegenüber in der Hochrechnung der Planungsgrundlage zu berücksichtigen, wie später aufgezeigt wird.
Für Einzelfragen, wie die Entwicklung der Artikelanzahl oder das durchschnittliche Gewicht pro Auftrag oder Position, kann auch eine Detailanalyse über einen längeren Zeitraum Sinn machen. Dies gilt insbesondere für die Bestimmung von Hochrechnungsfaktoren.
Bei der Betrachtung eines Jahres ist es zunächst unkritisch, ob Kalenderjahr, Geschäftsjahr oder eine aktueller 12-Monats-Zeitraum gewählt wird. Für das Geschäftsjahr spricht die einfachere Analyse, Diskussion und Bewertung, da die Zahlen in Systemen, Reports und in den Köpfen präsent sind. Und: „Klimmzüge“, um möglichst die aktuellsten Daten zu genieren und auch die letzten 4 Wochen noch zu berücksichtigen, gehen am Charakter einer Logistikplanung vorbei: Die Planung erfolgt ohnehin für Jahre in die Zukunft, sie muss also „robust“ gegenüber kurzfristigen Schwankungen und Abweichungen sein.
4. Scheingenau oder genau? Das fertige Mengengerüst setzt sich aus einer Vielzahl von Daten zusammen. Zunächst beeinflusst die Wahl des Analysezeitraums das Ergebnis. Die verwendeten Daten sind z.T. historische Echtdaten, z.T. geschätzte Werte. Mit der Hochrechnung auf die Zukunft kommen willkürlich festgelegte Zeiträume und Faktoren hinzu. Es macht wenig Sinn, z.B. bei der Bestimmung der Artikelanzahl Tage und Wochen in die 3. Stelle zu investieren, um dann den Hochrechnungsfaktor – 10 %? – oder 15 %? – oder 20 %? – aus dem Bauch heraus zu entscheiden. Wichtig ist, sich (und anderen) immer wieder bewusst zu machen, ob man gerade von einer Genauigkeit im Promillebereich spricht oder von +/- 10 Prozent. Die gewählte Genauigkeit ist dann aber durchgängig anzuwenden, um nicht den berechtigten Aufwand, den man getrieben hat, durch systematische oder zufällige Fehler an einzelnen Stellen zu entwerten. Beispiel: Der Wareneingang pro Tag ist 18.534 kg, solide und exakt ermittelt, aber wie viele LKW und damit Rampenanfahrten verbergen sich dahinter? „Rechnen Sie mal mit 1.000 kg Anliefervolumen pro Fahrzeug, aber wir haben manchmal auch 8 Tonnen, und denken Sie auch an die Paketdienste“: Es lohnt „den Schweiß der Edlen“, hier tiefer einzusteigen.
Viele für das Mengengerüst benötigte Daten (z.B. Auftragseingänge) lassen sich als unabhängige Zufallsgrößen betrachten. Die wichtigste Wahrscheinlichkeitsverteilung dieser Größen ist die Normalverteilung nach Gauß. Hier „hilft“ dem Planer das Gesetz der großen Zahl: Der zu Folge ist die Varianz des Summenwertes kleiner als die Varianz der Einzelwerte, d.h. Schwankungen einzelner Bewegungs-, Bestands- und Strukturdaten gleichen sich in der Summe tendenziell aus (vgl. hierzu: Gudehus, Timm: Logistik. Grundlagen – Strategien – Anwendungen. 4. Auflage, Springer-Verlag 2010, S. 251 ff.)
5. Was wollen uns die Daten sagen? Manchmal werden bei der Interpretation der Daten systematische Fehler gemacht. Beispiel: Wie viele Artikel werden in einem Logistikzentrum gleichzeitig gelagert, für welche dann Lager- und Kommissionierplätze benötigt werden? Wenn im Laufe eines Jahres z.B. in Summe 5.000 anonym gefertigte oder beschaffte Artikel und 10.000 auftragsspezifische Artikel durch das Lager laufen, sind eben keine 15.000 Artikel gleichzeitig im Bestand. Hier hilft eine Analyse der jeweils zum Monatsende im Lager befindlichen Artikel. Das können im betrachteten Fall 6.000 Artikel sein, wenn z.B. jeder Kunden-Artikel durchschnittlich einmal auf Lager genommen wird und im Mittel 5 Wochen im Lager bleibt, und die Lager-Artikel durchgängig bevorratet werden.
Auch die beliebte ABC-Analyse ist für sich noch kein Erkenntnisgewinn. Was nutzt es, das Gefühl bestätigt zu bekommen, das auf 5 oder 10 % der Artikel z.B. 50% des Umsatzes entfallen, auf weitere 15 oder 20 % dann 30 % usw. Interessant wird eine Klassifizierung, wenn sie Handlungsoptionen bei der eigentlichen Planung eröffnet. Als Beispiel sei die Gestaltung von Kommissioniersystemen genannt, hierzu ein kleiner Exkurs: Bei der Anwendung von ABC-Kriterien ist auf eine Selbstregelung zu achten, da sich die Zugehörigkeit von Artikeln zu einer – ohnehin willkürlich gewählten – Klasse sich im Zeitablauf permanent verändert. Zudem können in A-Bereichen ungewünschte Behinderungs- und Blockiereffekte auftreten oder interessante Synergieeffekte wie die Familienbildung, d.h. die räumlich zusammenhängende Kommissionierung von Teilprogrammen, vernachlässigt werden.
6. Spitzenfaktor – aber auch relevant? Die Wirtschaftlichkeit eine Logistiksystems erweist sich im Durchschnitt, gleichzeitig muss das System Spitzenlasten abdecken. Hier ist bei der Errechnung von Spitzenfaktoren nach Funktionsbereichen zu differenzieren – der Versand muss „tagfertig“ abgewickelt werden, aber gilt das auch für den Eingang von Warenretouren? Ebenso ist zu klären, was es bedeutet, an einem, zwei, drei, fünf oder zehn Tagen im Jahr nicht die Spitze abzudecken, sondern eine Verzögerung um einen Tag einzukalkulieren. Häufig liegt dann der relevante Spitzen- und damit Auslegungsfaktor deutlich unter dem Maximalwert, wodurch sich die Gesamtinvestition fühlbar reduzieren lässt.
Für die Planung hat die Frage der Spitzenfaktoren bei hochausgelasteten Systemen (im Extrem 7 Tage / 24 Stunden) naturgemäß eine erheblich größere Bedeutung als bei niedrig ausgelasteten Systemen, bei denen in der Regel allein durch Verlängerung der Arbeits- und Betriebszeiten reagiert werden kann.
7. Sind die Daten plausibel und konsistent? Auch wenn wir um die Grenzen von Planungsgrundlagen wissen: Das Ergebnis muss plausibel und konsistent sein. Ein Plausibilitätscheck, z.B. durch Abgleich der aus den Systemen gewonnenen Daten mit der Einschätzung der operativ Verantwortlichen, hat schon manche Datenmängel, Auswertungsfehler oder Fehlinterpretationen ans Tageslicht gebracht. Und eine Plausibilität kann nur schwer überprüft werden, wenn die Daten nicht konsistent sind, z.B. wenn sich verschiedene Daten auf unterschiedliche Zeiträume beziehen und daher nicht in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Plausibilität und Konsistenz sind die zentrale Grundlage für die Akzeptanz der Planung durch die Stakeholder.
Die Konsistenz der Daten hat vor allem aber noch einen technischen Aspekt: Das Mengengerüst wird in der Regel in einem Tool abgebildet, um Hochrechnungen durchzuführen und Szenarien zu kalkulieren. Wenn die Daten nicht zueinander passen, wird es dann schnell sehr kompliziert.
Die Fortsetzung folgt im März: Dann geht es um den Planungshorizont, die Hochrechnung sowie generell die Grenzen von Planungsgrundlagen und ihre Überwindung.
Leave a Reply