Egal ob in einer kleinen Cessna über der Schwäbischen Alb oder im Cockpit eines A380 im Landeanflug auf Hong Kong: Piloten tragen im Luftfahrtverkehr eine große Verantwortung für Menschenleben, die in vielen Situationen Entscheidungen verlangt, die weder Aufschub noch Fehler dulden. Das gilt nicht nur in potentiellen Not-Situationen, sondern auch und vor allem in der ganz alltäglichen Abwicklung des Luftverkehrs. Neben Technik, Luftrecht und Wetter werden deshalb in der Pilotenausbildung schon früh Verhaltensmuster und ein richtiges Mindset trainiert. Eines dieser Verhaltensmuster wird mit dem Begriff der Situational Awareness umschrieben. Wir wollen im Folgenden diesen Gedankenansatz einmal genauer beleuchten und sehen, was Logistiker davon lernen können.
Im Detail lässt sich der Ansatz der Situational Awareness in drei Abschnitte unterteilen. Der initiale Abschnitt besteht in der Wahrnehmung oder Beschreibung der Umgebung: Wo befindet sich das Flugzeug im Moment, in welcher Höhe, mit welcher Geschwindigkeit, in welchem technischen Zustand sind die Instrumente und wie ist das Wetter. Die möglichen Attribute den Zustand des Flugzeugs zu beschreiben sind nahezu endlos.
Das bringt uns zum zweiten Abschnitt, nämlich der Evaluierung und Bewertung dieser Attribute. Welche Werte sind Abweichungen von der Norm und deshalb besonders wichtig? Sind andere Verkehrsteilnehmer in der Nähe, die möglicherweise gefährlich nah kommen könnten? Was sagt der Wetterbericht für die bevorstehende Flugstrecke und den Zielflughafen? Das Ergebnis dieser Evaluierung führt uns zum dritten Abschnitt, nämlich der Vorhersage der unmittelbar bevorstehenden Zukunft und den daraus abgeleiteten potentiellen Problemen.
Vom Cockpit in die Lagerhalle
Dieses Verhaltenspattern erscheint bei der Übertragung auf das Management in der Logistik oberflächlich betrachtet erst einmal trivial, insbesondere für Entscheider, die ohnehin schon mit Analysewerkzeugen umgehen.
Der fundamental neue Gedanke liegt mehr in der Systematisierung, wirklich alle verfügbaren Datenquellen gemeinsam und gleichzeitig zu nutzen und kontinuierlich in die laufende Evaluierung zu investieren. Zwar zeichnet sich ein mögliches Problem in der Zukunft häufig bereits früh im Datenmaterial ab. Das kann häufig aber erst rückblickend und nur von wenigen Einzelpersonen erkannt werden – und der entstandene Schaden ist dann nicht mehr abzuwenden. Diese Erkenntnis über möglichen Abweichungen vom idealen Prozessablauf so früh wie irgend möglich aus allen bestehenden Datenquellen abzuleiten, um so früh wie irgend möglich Gegenmaßnahmen einleiten zu können, muss das oberste Ziel sein. Genauso wie ein Pilot bei einem Flug von Frankfurt nach Los Angeles: Der weiß bereits 12 Stunden vor der Landung, dass er sich auf ungemütliches Wetter einstellen muss und zur Sicherheit etwas mehr tankt, weil es zu einer Verzögerung während des Anflugs kommen könnte.
Die Beispiele aus der Logistik sind vielfältig und hängen vom Prozess und den Waren ab.
Ein Klassiker ist der Abschluss sehr großer Aufträge: Ein Kunde wird mit einigen hundert Einzel-Positionen beliefert. Der Auftrag kann erst verladen werden, wenn alle Positionen im Warenausgang vollständig angekommen und verpackt sind. Kurz vor Brückenschluss fällt auf, dass zwei Positionen noch gesucht werden müssen, weil sie in der Qualitätssicherung (QS) hängen. Mit dem richtigen Mindset und den richtigen Tools wäre es vielleicht bereits zwei Stunden vorher möglich gewesen, einen personellen Engpass in der QS zu sehen und vor allem dessen negative Auswirkung auf den Warenausgang vorherzusagen. Jeder kann sich selber weitere Beispiele für seinen Bereich oder sein Lager ausdenken.
„Pilotenschein“ für Logistiker
Die spannende Frage bleibt nun, wie man denn nun die Situational Awareness in einem Lager aufbauen oder verbessern kann. Dazu muss man zunächst verstehen, dass dieser Weg nur iterativ Sinn ergibt. Es ist nicht ein großes Big-Bang-Projekt, das auf einen Schlag alle Probleme löst. Am besten, man beginnt mit typischen Schwachstellen der Lagerabwicklung und fragt sich, welche Information zu welchem Zeitpunkt das Problem verhindert hätte. Diese Information wird beschafft – zumindest so gut wie möglich -, aufbereitet und allen Beteiligten zur Verfügung gestellt. Zum Beispiel auf einem Bildschirm, der für die jeweils Verantwortlichen einfach sichtbar ist.
Wichtig ist, dass jeder Mitarbeiter diese Informationen versteht, um den iterativen Prozess akzeptieren und mittragen zu können. Vor allem die Mitarbeiter direkt im Lager sind diejenigen, die dabei den Gedanken der Situational Awareness verinnerlichen müssen. Denn sie sind es auch, die Feedback zur Gestaltung und Aufbereitung der Information geben. Dieses Feedback ist entscheidend für die Weiterentwicklung eines Informationssystems und wird sich mit neuen Aufträgen, neuen Mitarbeitern und neuen Herausforderungen immer wieder verändern.
Das richtige Tool
Bei der Auswahl des Tools, das die notwendigen Informationen beschaffen soll, ist deshalb großes Augenmerk auf die Flexibilität zu legen. Verbesserungen in der Informationsbeschaffung, -aufbereitung und -präsentation müssen daher so einfach wie möglich sein. Agil eben. Darüber hinaus sollte es möglichst keine Einschränkungen in der Datenbeschaffung geben. Mögliche Datenquelle sind üblicherweise die entsprechende ERP/Logistik-Systeme, Förderanlagen und gegebenenfalls Drittanbieter. Es sollten idealerweise alle Datenquellen unterstützt werden.
Sind diese Mindest-Voraussetzungen – bedingungslose Agilität und keine Einschränkungen in den Datenquellen – erfüllt, steht den ersten Gehversuchen in Richtung Situational Awareness nichts mehr im Wege. Der Autor wünscht viel Erfolg!
Der Autor: Patrick Theobald
Patrick Theobald ist CTO und Gründer des Stuttgarter Startups Peakboard. Das Unternehmen bietet Technologie zur Echtzeitvisualisierung von Prozessdaten, die vor allem in Produktion und Intralogistik zum Einsatz kommt. https://peakboard.com/
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