Die Unsicherheit bleibt weiterhin groß, welche Auswirkungen die Corona-Krise auf den Wirtschaftsbereich Logistik haben wird. Deshalb ist es um so wichtiger, kontinuierlich die Lage zu bewerten und aktualisierte Einschätzungen zu geben. Auf Basis der Diskussionen des virtuellen Gipfeltreffens am 27. März 2020 und des daraus folgenden offenen Briefes an die Bundesregierung haben die 32 Expertinnen und Experten der Logistikweisen im Zeitraum vom 7. bis zum 11. Mai 2020 eine interne Umfrage durchgeführt, um aus den Ergebnissen ein Bild der aktuellen Lage und eine Einschätzung der weiteren Entwicklungen zu gewinnen. Diese wurden am 13. Mai auf der Online-Konferenz Restart Logistics der BVL.digital erstmals vorgestellt (siehe auch DVZ und LOGISTIK Heute).
Die Zeit der grenzenlosen Freiheit und des unbekümmerten Wachstums ist vorbei
Aktuell dominieren Resilienz, Schutzmaßnahmen und Einschränkungen die Unternehmensentscheidungen. Wie können unter den aktuellen und den zukünftigen Bedingungen die Unternehmensaktivitäten und damit die Leistungsfähigkeit aufrechterhalten werden? Welche Einschränkungen werden weniger und welche sind noch zu erwarten? Wie können konkret die Beschäftigten geschützt werden?
Diese akut operativ zu lösenden Themen werden auch in Zukunft die Unternehmen weiter umtreiben. So wird Risiko-Management für Unternehmen eine größere Rolle spielen, um die Handlungsfähigkeit auch in ähnlichen zukünftigen Situationen aufrecht zu erhalten. Ein wichtiges Mittel beschreibt das Schlagwort „Transparenz“. Dieses umfasst zwei nicht minder wichtige Aspekte:
- Im Sinne des Risiko-Managements und auch des Managements von Logistikketten und Supply Chains insgesamt ist ein höheres Maß an Auskunfts- und Informationsfähigkeit notwendig, um auf Abweichungen vom Plan reagieren zu können. Hierbei ist wichtig, dass es nicht nur um Naturkatastrophen, Pandemien oder – um es etwas kleiner zu halten – Verkehrsunfälle geht, sondern um bspw. Veränderungen in den verfügbaren Produktionskapazitäten der Lieferanten oder bei der Nachfrage der Kunden.
- Transparenz sollte jedoch auch im Sinne der Kommunikation gewahrt werden, nach innen in Richtung der Beschäftigten ebenso wie nach außen. Wer Herausforderungen oder Fehler vertuscht und Beschäftigte und Partner zum Beispiel über die Situation des Unternehmens im Unklaren lässt, kann sich kurzfristig Zeit verschaffen – mittelfristig schadet das der Vertrauensbasis und der Unternehmenskultur.
Denn es gibt auch eine Zeit nach der Krise, die eine gesteigerte Kundennachfrage bringt – die sich jedoch deutlich hinsichtlich der Art (Produktaspekte), der Form (Serviceaspekte) und des Verlaufs (zeitliche Aspekte) verändern wird. Darauf sollten sich Logistiker einstellen. Denn ein Unternehmen muss immer unternehmerisch denken und handeln, und damit im Sinne des nachhaltigen Unternehmenserfolgs. Dies bedeutet, die Beschäftigten und Partner auf die Reise mitzunehmen, eine klar skizzierte Strategie und die dafür notwendigen Zukunftsprojekte zu verfolgen, um gerade als Logistik – eine elementare Säule der deutschen Wirtschaft – seinen Kunden einen Wettbewerbsvorteil im Aufschwung zu gewährleisten.
Digitalisierung kommt verzögert
Viele Unternehmen verfolgen weiterhin ihre Zukunftsprojekte in der Logistik-Digitalisierung trotz der Krise, selbstverständlich mit den vorhandenen Möglichkeiten. Die Logistik fällt nicht zurück, auch wenn zugegebenermaßen die Mehrheit der Logistikdienstleistungsunternehmen ihre Digitalisierungsprojekte gezwungenermaßen pausieren müssen. Es wird erwartet, dass die Digitalisierung in der Logistik nach der Krise verstärkt umgesetzt wird. Denn an vielen Stellen gilt in der Krise „Das haben wir schon immer so gemacht“ ohnehin nicht mehr:. In vielen operativen und auch administrativen Bereichen musste schlicht aufgrund der Situation auf vorher nicht genutzte digitale Werkzeuge zurückgegriffen werden. Somit wurden viele Unternehmen in der Logistik zwangsläufig mit den Möglichkeiten von Werkzeugen der Digitalisierung konfrontiert und werden nach der Krise tendenziell größere Offenheit zeigen – denn es hat bekanntlich funktioniert. Auch die Startup-Szene wird davon profitieren, die von der derzeitigen Krise auch aufgrund der geringen Kapitaldecke stark betroffen ist. Deshalb wird erwartete, dass der Wirtschaftsbereich bei der Digitalisierung aufgrund der Corona-Krise keinen Boden verlieren, sondern eine steilere Umsetzungskurve verfolgen wird.
Die konkreten Erwartungen des Expertenkreises: -5 Prozent real in 2020, + 3 Prozent real in 2021
Grundsätzlich wird in 2020 mit einem deutlichen Einbruch gerechnet. Auf Basis der aktuellen Prognosen bspw. des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der KfW, des ifo etc. und gestützt auf Erfahrungen schätzt der Expertenkreis den realen Einbruch im Wirtschaftsbereich Logistik in 2020 auf ein Minus von ca. 5 Prozente real.
Für das kommende Jahr 2021 würde sich vor diesem Hintergrund ein Wachstum von 3 Prozent real ergeben. Diese Einschätzungen sind als erste Indikationen zu verstehen, bis detaillierte Daten zu den Entwicklungen nach den harten Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Corona-Virus verfügbar sind.
Weitere Erwartungen des Expertenkreises finden sich in der folgenden Zusammenstellung:
Entwicklung gesamt | Eine schnelle Erholung der Logistik ist nicht zu erwarten. Es gibt jedoch Hoffnungsschimmer, dass es im 2. Halbjahr wieder aufwärts geht. Die langsam anlaufende Produktion an vielen Standorten weist darauf hin. Selbstverständlich bleiben die Mengen weit unter denen des Vorjahres. |
Insolvenzen in der Logistik | Die sehr große Mehrheit der Logistikdienstleistungsunternehmen werden am Markt bleiben, auch wenn von einer deutlichen Zunahme der Zahl an Insolvenzen bei kleinen und mittleren Unternehmen ausgegangen werden muss. Die Zahlen zum Februar 2020, wonach in dem Monat 121 Unternehmen des Verkehrs und der Lagerei Zahlungsunfähigkeit im Vergleich zu 94 im Vorjahr angemeldet haben, sind kein Indiz für die zu erwartende Entwicklung. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Wirtschaft noch in keiner Krisensituation. Weiterhin sind in dieser Statistik Unternehmen des gesamten Verkehrs enthalten (knapp 40.000 Unternehmen wie Taxiunternehmen oder Reisebüros können dem Personenverkehr zugeordnet werden, rund 63.000 der Logistik). Nichtsdestotrotz ist eine deutliche Steigerung im weiteren Verlauf des Jahres zu erwarten, die mehr als einer Verdopplung entsprechen wird. |
Wachstumstreiber | Die Globalisierung wird eindeutig nicht der Wachstumstreiber der Logistik sein, sondern die Inlandsnachfrage und der Binnenmarkt der EU. Denn zunächst öffnen sich die inner-europäischen Grenzen. Auch China ist vorerst auf die Stabilisierung der eigenen Wirtschaft aus, bevor die Beschaffung im Ausland in großem Maße verfolgt wird. Weiterhin werden wichtige Handelspartner wie die USA, Russland und Brasilien aufgrund der verzögerten Entwicklung der Corona-Krise länger ausfallen. |
Beschäftigte | Auch wenn derzeit die Logistik positiver bewertet wird, werden die Beschäftigten davon nicht profitieren. Dies ist eine ernüchternde Aussage, die auf den bisherigen Erfahrungen des Expertenkreises fußt. Indizes weisen ebenso auf einen aufflammenden Preiskampf hin. So fielen die Preise laut dem Transportmarktmonitor im April 2020 um über 12 Prozent gegenüber dem Vorjahr (Anmerkung: Bereits 2019 sind die Preise gegenüber 2018 deutlich gefallen). Dies sind keine Hinweise darauf, dass kurzfristig den Beschäftigten ein höherer Lohn gezahlt wird bzw. werden kann. |
Image | Inwieweit die derzeitige Wahrnehmung der Logistik als wichtiger Partner in der Wirtschaft auch nachhaltig wirkt, wird sich zeigen. Mittel- oder langfristig kann sich jedoch etwas ändern, insbesondere durch die Strukturwandel in einigen Industrien und die Realisierung der Systemrelevanz der Logistik. Darüber ist sich der Expertenkreis jedoch uneinig. |
Globalisierung | Die Globalisierung wird zwar nicht grundsätzlich in Frage gestellt, aber eine Verkürzung vieler Supply Chains ist zu erwarten. So werden weiterhin viele Mengen auf internationalen und interkontinentalen Strecken unterwegs sein. Einige Logistikketten und Supply Chains werden jedoch anders konzipiert. Die regionale Globalisierung ist dabei eine Entwicklung, die der Expertenkreis bereits in seinem Bericht 2017 identifiziert hat. Auch andere neue Einflussgrößen wirken auf die Gestaltung der Netzwerke. Einer davon ist das potenzielle Risiko globaler Vernetzungen, ein anderer die Nachhaltigkeit. |
Nachhaltigkeit | Nachhaltigkeit wird um das Thema Risiko-Management erweitert. Umweltaspekte treten zunächst etwas in den Hintergrund. Für die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit aber kann und darf das Thema nur wegen einer Krisensituation nicht von der Agenda genommen werden. |
Forderungen des Expertenkreises an die Politik
Der offene Brief an die Bundesregierung ist vor sechs Wochen veröffentlicht worden – in der Corona-Krise eine lange Zeit. Deshalb hat der Expertenkreis seine Forderungen und Anliegen an die Politik aktualisiert.
Ein wichtiger Aspekt ist die Planung und auch die Transparenz bei den weiteren politischen Entscheidungen. Unternehmerisches Handeln kann nur dann nachhaltig erfolgreich sein, wenn die eigenen Entscheidungen auf einer fundierten Perspektive fußen. So hilft eine Transparenz darin, was unter welchen Rahmenbedingungen entschieden wird oder wie ein Weg aus der Krise gestaltet sein kann. Ein Beispiel dafür ist der australische Weg, der drei Stufen der Öffnung definiert. Es gilt also nun, auf Basis der „lessons learned“ die Maßnahmen im weiteren Verlauf zwischen Gesundheits- und Gesellschaftsschutz auszubalancieren, damit die Entscheider in der Wirtschaft den Anlauf planen können.
Auch sollte nach der ersten erfolgreichen Hilfe zur Überbrückung der Krise über gezieltere Finanzhilfen nachgedacht werden, die eine Erneuerung der Wirtschaft in Deutschland fördern. So kann der Restart im weltweiten Wettbewerb einen Vorteil bedeuten.
Abschließend muss die internationale Zusammenarbeit stärker koordiniert werden. Ein Hochlauf der Produktionsstätten in Deutschland ist nur möglich, wenn sie von den europa- und weltweit verteilten Lieferanten versorgt werden können. Uns ist bewusst, dass diese Einschätzungen nur eine Momentaufnahme sein können. Deshalb werden wir kontinuierlich die Lage beobachten und die Einschätzungen aktualisieren.
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