Urbane Logistik: Experten fordern „Ende der Denkverbote“
Fachleute beklagen in einer Diskussionsrunde des BVL Themenkreises Logistikimmobilien unflexibles Baurecht.
(Bremen, 23.10.2020) Ob Handelsunternehmen, Stadtplaner, Entwickler oder Behörden: Damit die Bevölkerung in urbanen Räumen künftig zuverlässig und nachhaltig mit Waren versorgt werden kann, müssen alle Interessenvertreter im Kopf schleunigst umparken. So lautete der Tenor eines hybriden Retail-Events des Themenkreises Logistikimmobilien der Bundesvereinigung Logistik (BVL) e. V. am 13. Oktober in München. Vier Experten aus den Bereichen Handel, Stadtplanung, Shopping-Center-Betrieb und Gewerbeimmobilienentwicklung erläuterten in einer Diskussionsrunde, wie sich der Bereich urbane Logistik entwickeln muss, damit sowohl klimapolitische und städteplanerische Ziele erreicht werden können als auch der Wandel des Handels erfolgreich verläuft. Zwar hat die Corona-Pandemie dem E-Commerce laut dem Bundesverband E-Commerce und Versandhandel im ersten Halbjahr 2020 zu einem Plus von 9,2 Prozent verholfen. Gleichzeitig kamen die Netzwerke der Logistikdienstleister im Handelsbereich an ihre Grenzen und der Ausbau der logistischen Infrastruktur stockte. „Seit dem Ausbruch der Pandemie ist es noch schwieriger als bisher geworden, in den Behörden Termine für neue Projekte zu bekommen – von Genehmigungen ganz zu schweigen“, so die Kritik von Francisco J. Bähr, Geschäftsführender Gesellschafter des Entwicklers Four Parx. Die Laufzeiten der Projekte verlängerten sich zum Teil um Monate. Ins gleiche Horn stieß auch Olaf Ley, Director Investment / Asset Management beim Shopping-Center-Betreiber Unibail-Rodamco-Westfield Germany (URW). „Alle Beteiligten müssen aufs Tempo drücken – und sie müssen sich besser vernetzen und kooperieren“, betonte der Vertreter von URW. Das Unternehmen betreibt deutschlandweit 23 Einkaufszentren.
Micro-Hubs in Shopping-Centern Zusammenarbeit zwischen dem stationären Handel und den E-Commerce-Spezialisten ist für Ley auch einer der Schlüssel, wie sich die Handelswelt insgesamt neu aufstellen kann – Stichwort Omnichannel-Strategie. Als Beispiel nannte er das Projekt Connected Retail zwischen URW und Zalando. Dabei geht es unter anderem darum, dass Geschäfte in Einkaufszentren Waren aus ihren Shops oder lokalen Lagern versenden, die Verbraucher zuvor auf der Online-Fashion-Plattform Zalando bestellten. Ley hält eine Vielzahl von bestehenden Shopping-Centern mit großen Entladezonen für Lkw und Transporter dafür geeignet, um dort Micro-Hubs für die Logistik zu errichten. Die Revitalisierung brach liegender Handels- und Industrieflächen für die Logistik und die Funktionserweiterung bestehender Handelshäuser für die Lagerung von Waren erachtet Mario Flammann, Geschäftsführer bei Pesch Partner Architekten Stadtplaner und Co-Autor der Studie „City-Logistik neu gedacht“ der IHK Stuttgart, auch deshalb für sinnvoll, „weil wir mit dem Flächenverbrauch sorgsam umgehen müssen.“ Die Flächen- und Nutzungskonkurrenz im öffentlichen Raum lässt sich seiner Meinung nach nur durch integriert durchdachte Lösungen beseitigen. Unternehmen, Planer und Politiker seien aufgefordert, das breite Themenfeld der urbanen Logistik in Planungsprozessen frühzeitig mitzudenken und innovative Lösungen zu ermöglichen – das gelte besonders für die Entwicklung neuer Stadtquartiere.
Baurechtliche Probleme Apropos Funktionserweiterung: Citylogistikexperte Bähr plädierte dafür, dass in den Städten mehr Multifunktionsimmobilien errichtet werden. „Denkverbote müssen ein Ende haben. Eine Immobilie mit Logistik im Untergeschoss, Handel im Erdgeschoss, Büros im ersten Stock und Wohnungen in den Stockwerken darüber – das ist absolut sinnvoll. Aber baurechtlich ist so ein Vorhaben noch ein riesiges Problem“, so Bähr.In die gleiche Richtung argumentierte auch Moderator Raimund Paetzmann, Vice President Corporate Real Estate bei Zalando und Sprecher der Fokusgruppe Retail/E-Commerce im Themenkreis: „Man muss jetzt eine Vorstellung entwickeln, wie die Stadt und der Handel in zehn Jahren aussehen werden, und dann rückwärts planen.“ Dass schon kleine Veränderungen an Neubauten viele Optionen für Logistikdienstleister eröffnen, erläuterte Bauexperte Bähr am Beispiel eines Parkhauses. Würde man das Erdgeschoss statt zwei Meter bereits drei Meter hoch planen, dann könnten dort KEP-Dienstleister mit Transportern nachts hineinfahren und geräuscharm Pakete entladen. Generell legt der Entwickler aus Dreieich Politikern und Behörden nahe, rasch Zeitfenster für die Ver- und Entsorgung der Städte einzuführen – und gleichzeitig über das Thema Kohlendioxidreduzierung ernsthafter als bisher nachzudenken. Bähr: „Meiner Meinung nach müssen wir schon in fünf Jahren die City kohlendioxidneutral versorgen.“
Vernetzung wichtig Die Diskussionsteilnehmer betonten unisono, dass sich Kommunen zu wenig Gedanken über das Thema urbane Logistik machen – und es selten wagen, neue Wege zu gehen. Eine Lanze brach Bähr für den Hamburger Senat. Er interessierte sich für eine Machbarkeitsstudie über die Ver- und Entsorgung der Hansestadt mithilfe eines Fördersys-tems in einem Tunnel. Die Studie gab Four Parx bei dem Unternehmen Smart City Loop in Auftrag. Der Senat wurde laut Bähr vor allem deshalb hellhörig, weil mithilfe dieses neuen Versorgungssystems bei einem 24-Stunden/300-Tage-Betrieb 540.000 Transportfahrten pro Jahr ersetzt werden können. Das entspricht Four Parx zufolge umgerechnet Einsparungen von mehr als 10.000 Tonnen Kohlendioxid pro Jahr. Handelsexperte Ley riet Logistikern, Investoren und Entwicklern dazu, nicht zu warten, bis in den Städten jeder von einem innovativen Handels- oder Logistikprojekt überzeugt sei: „Unsere Branche muss mit kreativen Vorschlägen sowie Plänen punkten und sich auch untereinander noch besser vernetzen – so kann man auch Konzepte entwickeln, die mit mehr Unterstützung der Kommunen hoffentlich zügiger genehmigt werden.“ Ein Video-Mitschnitt der Diskussionsrunde des BVL Themenkreises Logistikimmobilien vom 13. Oktober ist kostenlos im Internet abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=DEk37YllZ50